Für diesen Leserbrief möchten wir uns sehr herzlich bei Nora Oehmichen bedanken und vielen Lehrer*innen diesen Mut wünschen.
eemag Redaktion.
An Herrn Ministerpräsidenten
Winfried Kretschmann
Staatsministerium Baden-Württemberg
Richard-Wagner-Str. 15
70184 Stuttgart
Asperg, den 16. April 2020
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
ich wende mich heute an Sie als meinen obersten Dienstherrn, Grünes Urgestein, und Mensch. Mein Problem: Als Beamtin befinde ich mich in einem immer akuter werdenden Amtseid-Dilemma. Um dies zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.
Es muss gegen Ende des Jahres 1999 gewesen sein, als ich als Referendarin am Lehrerseminar in Rottweil zusammen mit rund sechzig Kolleg*innen, alle mit erhobener Schwurhand und durchaus von einem feierlichen Kribbeln ergriffen, folgenden Eid leistete: „Ich schwöre, das Grundgesetz und alle in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetze zu wahren und meine Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“ Wenn ich mich richtig zurückerinnere, habe ich damals den Zusatz am Schluss weggelassen, aber das ist ja legitim – Glaubens- und Religionsfreiheit gehören ja schließlich zum Grundgesetz, und damit zu eben den schützenswerten Idealen des Staates, dessen Dienerin ich nun fortan sein sollte.
In den darauffolgenden Jahren hatte ich nicht viel Anlass, weiter über diesen Eid nachzudenken. Erstens hatte ich mit den Prüfungen zum Lehramt, der ersten Stelle als „richtige“ Lehrerin, dem ersten Kind (und dann dem zweiten und dem dritten), Unterrichtsvor- und Nachbereitung, Korrekturen, Konferenzen und dem Engagement in schulischen Projekten genug um die Ohren. Zweitens: Es gab nicht wirklich einen Grund, weiter darüber nachzudenken. Ich erfüllte meine Amtspflichten tatsächlich ziemlich gewissenhaft, und was darüber hinaus den Schutz des Grundgesetzes betraf, naja, das gehörte als Geschichts- und Ethiklehrerin ohnehin zum Tagesgeschäft, und so weit schien mit der Umsetzung der dort verbrieften Grundrechte ja auch alles weitestgehend in Ordnung zu sein.
Ich kann das zeitlich nicht mehr genau verorten, wann mich zum ersten Mal das Gefühl beschlich, dass irgendetwas aus dem Lot geraten war mit mir und meinem bis dato ungestörten Verhältnis zu dem Staat, dem ich diene. Wohlgemerkt: nicht zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das für mich als prekär gläubigen Menschen im Prinzip die Bibel ersetzt.
Schon seit einigen Jahren engagiere ich mich zunehmend im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung und habe zunehmend erfahren, in welch grotesker Weise das, was zu tun wäre, nicht zusammenpasst mit dem, was tatsächlich geschieht. Grundgesetz Artikel 20a: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen […] im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung […].“
Als die Fridays for Future-Bewegung erst hunderttausende junge und im Laufe der Zeit dann zunehmend auch weniger junge Menschen auf die Straße brachte, und die Proteste dann auch noch hochkarätige und geballte Rückendeckung durch die Wissenschaft bekamen, dachte ich: Jetzt. Endlich. Tut. Sich. Etwas.
Es tat sich auch etwas. Ein Klimakabinett wurde geschaffen, ein Klimapaket verabschiedet, das „Thema“ war in der Breite angekommen. Aber das war’s dann auch. Das Klimakabinett folgte nicht annähernd im selben Maße den Empfehlungen der Wissenschaftler*innen, wie es das Corona-Kabinett derzeit im Hinblick auf die Pandemie tut. Das Klimapaket wurde ein Klimapäckchen, unter anderem mit lächerlich niedrigen Preisen für den weiterhin munteren Ausstoß von CO2. Die breite Masse hat ein leicht erhöhtes Bewusstsein für die Klimakrise, aber da die entscheidenden Weichenstellungen von „oben“ ausbleiben, geht auch „unten“ business as usual im Wesentlichen weiter oder es wird sogar – „Fuck you Greta“ – jetzt erst recht auf die Tube gedrückt. Flugscham? Fehlanzeige.
Ich setze mich als Beamtin dieses Landes mit den mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten dafür ein, das Grundgesetz zu wahren und dadurch unser aller Zukunft zu schützen – warum, frage ich mich, macht mein Land nicht dasselbe?
Als Ethiklehrerin habe ich mit nunmehr weit über zehn Jahrgangsstufen von Schüler*innen über die Frage diskutiert, wie wir mit der Welt, in der wir leben, umgehen. Die Jugendlichen kamen, lange vor Fridays for Future, regelmäßig und logischerweise zu dem Schluss, dass auch die Natur einen Wert an sich habe. Dass wir Menschen aber auch aus gänzlich eigennützigen Motiven heraus gut daran täten, die Biodiversität zu schützen. Und es kam, jedes Mal aufs Neue, zu der grotesken Situation, dass ich auf die Frage „Und wieso wird das dann nicht gemacht? Gibt’s da keine Gesetze oder sowas??“ leider nur sagen konnte: „Doch, die gibt es, steht sogar im Grundgesetz.“ „Und wieso passiert dann da nichts? Da geht es immerhin um unsere Zukunft!“ Was antwortet man als verbeamtete Lehrerin seiner Klasse auf eine solche Frage? „Wisst ihr, Kinder, da gibt es diese Wirtschaftslobby. Die hat soooooo viel Geld und stellt soooooo viele Arbeitsplätze, dass die Politiker*innen an dieser Stelle halt leider keine Rücksicht auf die Artenvielfalt, das Klima und eure Zukunft nehmen können. Habt dafür bitte Verständnis. Und eure Eltern wollen ja auch gerne SUV fahren und dreimal im Jahr in den Urlaub fliegen, und ihr wollt ja auch weiterhin Burger essen und bei Primark einkaufen und euch da in eurer Freiheit nicht einschränken lassen. Darauf müssen die Politiker*innen ja auch Rücksicht nehmen.“ Tja. Gar nicht so einfach, gleichzeitig das Grundgesetz zu wahren UND loyal gegenüber der Regierung zu sein.
Noch komplizierter wird das in den letzten Jahren übrigens im Geschichtsunterricht. Auf Klassenstufe 9 sprechen wir über die NS-Diktatur. Gut, manches ist hier auch einfacher geworden, etwa, wenn über die Zerstörung der Weimarer Demokratie durch den Nationalsozialismus gesprochen wird: Aktuelle Bezüge sind „dank“ des sich in der Bundesrepublik auf ganz unterschiedlichen Ebenen immer breiter machenden Nationalradikalismus‘ erheblich leichter und näher zu finden. Als Geschichtslehrerin musste ich dazu früher immer auf zeitgenössische Beispiele in Ländern anderer Kontinente, oder zumindest auf die Türkei unter Erdogan verweisen. Auf diese didaktische Hilfestellung durch die AfD, egal, ob mit oder ohne Flügel, würde ich jedoch herzlich gerne verzichtet haben.
Aber zurück zum Grundgesetz: Die größte Herausforderung stellt sich derzeit für mich, wenn es um den Holocaust geht. DIE Schüler*innenfrage im Zusammenhang mit diesem absoluten Tiefpunkt der deutschen Geschichte lautet: „Wie konnten die Menschen damals das zulassen? Die wussten doch oder konnten es sich denken, was mit den Leuten passiert!“ Ja, wie konnten sie? Selbstredend kann diese Frage auch im fachwissenschaftlichen Kontext nur sehr komplex beantwortet werden, so viel steht fest. Aber mein eigentliches Problem ist, dass ich meinen Schüler*innen seit einigen Jahren auch antworten könnte: „Wenn ihr wissen wollt, wie das geht, dass die Bevölkerung eines ganzen Landes, ja einer ganzen Staatengemeinschaft – die darüber hinaus vor
einigen Jahren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde -, wegsieht, wenn, zum Teil sogar auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet, Männer, Frauen und Kinder zuHunderttausenden sterben, dann schaut aufs Mittelmeer oder auf die Lager in Griechenland.“ Protest von Schülerseite: „Aber das kann man doch nicht miteinander vergleichen!!“ Stimmt: Im Unterschied zum Holocaust, wo Menschen gezielt und vorsätzlich umgebracht wurden, sterben die im Mittelmeer Ertrinkenden oder die in Moria und anderen Orten vor sich hin Siechenden durch Unterlassen. Für die Opfer selber dürfte diese Unterscheidung allerdings wohl eher marginal sein.
Und noch ein Unterschied: Menschen, die sich heute für die Geflüchteten auf den Bootenoder in den Lagern einsetzen, müssen nicht damit rechnen, selbst umgebracht zu werden, wie etwa Sophie und Hans Scholl oder andere Widerstandskämpfer*innen im Nationalsozialismus. Die Latte, sich gegen dieses Unrecht zu erheben und sich für einen Schutz dieser Menschenleben einzusetzen, liegt heute mithin sehr viel niedriger als in der Zeit des NS – und dennoch sehen die meisten weg oder, schlimmer noch, kriminalisieren diejenigen, die auf private Karte ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Menschen im
Mittelmeer aus Seenot zu retten. Menschen, die sich bei Sea Eye, Seawatch oder anderen NROs engagieren, damit es überhaupt so etwas wie Seenotrettung gibt – von Staats wegen gab es das exakt ein Jahr lang, 2013/14 – die italienische Operation „Mare Nostrum“. Italien hat damals enorme Summen für diese staatliche Seenotrettungsmission aufgewendet, dies jedoch in dem Moment eingestellt, als klar wurde, dass es dabei nicht auf die Unterstützung und Solidarität der übrigen EU-Staaten zählen kann. Seit dieser Zeit ist es um den Wert der Solidarität in Europa nicht gerade besser bestellt.
In Zeiten von Corona werden in Europa, leider weitestgehend nur auf nationaler Ebene, alle Hebel in Bewegung gesetzt, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Plötzlich geht vieles, was noch vor einigen Wochen undenkbar erschien: Unsere Freiheitsrechte werden zu diesem Zweck enorm eingeschränkt – und das ist in diesem Kontext dem Grunde nach auch gut so (obwohl man sich natürlich über Einzelmaßnahmen streiten kann und das auch weiterhin dürfen und tun sollte).
Doch auch in dieser Situation, wie schon zuvor, erlebe ich, dass die Würde von Menschen, und auch deren körperliche Unversehrtheit, von der staatlichen Gewalt offenbar nur dann verteidigt und geschützt werden, wenn es sich bei den Menschen um deutsche bzw. europäische Staatsbürger*innen handelt. Für Menschen, die sich auf dem Staatsgebiet der Europäischen Union, in den griechischen Flüchtlingslagern oder in maltesischem Hoheitsgewässer, befinden, hat dieses Recht offenbar keinerlei Gültigkeit. Die maltesische Seenotrettungsleitstelle erklärt ganz offiziell, in Seenot geratenen Booten, deren Position durch ein Frontex-Flugzeug einwandfrei festgestellt wurde, nicht zu Hilfe zu kommen, und bricht damit auf einen Schlag eine ganze Handvoll nationaler
und internationaler Gesetze und Abkommen – und niemand schreit auf. Im Gegenteil: Das deutsche Innenministerium weist eine deutsche NRO an, doch in Anbetracht der Corona-Pandemie das Retten bitte sein zu lassen – und das, während sich auf dem Schiff bereits Gerettete befinden. Sollen die Seenotretter*innen die Menschen, die sie aus dem Meer gezogen haben, wieder dorthin zurückwerfen??
Nicht mal einen Tagesschaubeitrag ist es wert, dass mehrere hundert Menschen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, vor Malta ertrunken sind, weil keine Hilfe kam, obwohl Hilfe möglich gewesen wäre. Und das an dem Tag, an dem die europäische Christenheit die Auferstehung des Mannes feiert, dessen oberste Leitlinie es war, sich für die Schwachen und Unterdrückten dieser Welt einzusetzen. Geht es noch zynischer?
Ja, geht es: Ein Mitarbeiter der Organisation Ärzte ohne Grenzen, der in Moria Kinder ärztlich untersucht, fühlt sich an die Selektionen in den NS-Konzentrationslagern erinnert. 50 Kinder dürfen das Lager verlassen, sie werden nach Luxemburg und Deutschland gebracht. Fünfzig. Kinder. Nach den Zahlen, die man im Internet findet, sind das nicht einmal fünf Prozent aller in griechischen Lagern lebenden Kindern. WährendDeutschland in diesen Tagen 80.000 Erntehelfer*innen aus Rumänien einfliegen lässt – zum Teil unter sträflicher Missachtung der geltenden Hygienevorschriften – schafft die EU
gerade mal 50 Kinder. Diese sollten nach dem Wunsch Luxemburgs bitte nicht zu krank und nach Möglichkeit der englischen Sprache mächtig sein. Das bedeutet erstens, dass die schwächsten Kinder ihrem Schicksal überlassen werden. Und zweitens: Wie sollen Kinder, die zum Teil ihr halbes Leben auf der Flucht verbracht haben, die seit Jahren im Schlamm und im Dreck leben, die nie sicher sein können, morgen satt zu werden, nebenbei auch noch Englisch lernen?!
Wenn Kliniken in Italien oder sonst wo aufgrund der Corona-Pandemie an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen, wird triagiert. Diese Herangehensweise hat sogar der deutsche Ethikrat abgesegnet. Das ist bitter für diejenigen Menschen, die dann nur noch palliativ behandelt werden können. Im Falle der Kinder von Moria und anderen Lagern aber ist diese Art von Triage mehr als nur ein Armutszeugnis für die Friedensnobelpreisträgerin EU: Es ist ein himmelschreiender Verrat an den Werten, für die sie einst angetreten ist. Es wäre genügend Zeit gewesen, lange vor Corona, diese Kinder – oder überhaupt die Geflüchteten, die in dieses Lagern auf europäischem Boden unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen – schon längst auf die
europäischen Staaten zu verteilen und ihnen gemäß des geltenden Asylrechts einen Schutz zu gewähren, der diesen Namen auch verdient. Oder aber dem EU-Kollegen Griechenland bei der Bewältigung dieser Aufgabe solidarisch zur Seite zu stehen. Jetzt vorzuschützen, man könne angesichts der Coronakrise nicht mehr Kinder aus den Lagern holen, ist eine derart billige Ausrede, dass es mir als deutsche Beamtin und Bürgerin der
Europäischen Union die Schamesröte ins Gesicht treibt.
Ich würde gerne die Werte meines Landes bewahren helfen UND dabei der Regierung gegenüber loyal sein. Seit einer Weile ist es jedoch so, dass ich mich, wenn ich mich für zentrale Werte des Grundgesetzes stark mache, immer häufiger im Gegensatz zu den Leitlinien, Grundsätzen und Entscheidungen der Politik wiederfinde und mich frage: Welche faktische Gültigkeit besitzen die Werte des Grundgesetzes in Deutschland eigentlich noch, wenn selbst die Bundesregierung sich an so vielen Stellen ganz offenbar nicht daran gebunden fühlt – und statt eine staatliche Seenotrettung auf den Weg zu bringen, lieber libysche Warlords mit Millionen von Euro ausbildet und dafür bezahlt, dass sie die Drecksarbeit machen, sprich: dafür sorgen, dass möglichst wenige Menschen die Flucht übers Mittelmeer überleben, damit verkündet werden kann, dass die Flüchtlingszahlen nach Europa „rückläufig“ seien?
Wie gerne würde ich meinen Schüler*innen auf ihre Fragen zum Umgang unseres Staates mit der Zukunft unseres Planeten und dem Schutz menschlicher Würde und von Menschenleben antworten können: „Beides ist in unserem Grundgesetz fest verankert und die Regierung setzt alles daran, diese Ziele auch umzusetzen.“
Seit einiger Zeit kann ich das nicht mehr. Es wäre eine glatte Lüge.
Als Ministerpräsident haben Sie ebenfalls einen Amtseid geleistet. Im Kern dürfte dieser Eid denselben Inhalt haben wie der, den ich als Lehrerin geleistet habe. Damit dürften Sie im Kern vor demselben Dilemma stehen. Wie gehen Sie damit um? Vielleicht haben Sie in der Sache ja einen Rat für mich.
Mit einigermaßen ratlosen Grüßen,
Nora Oehmichen, OStR‘ am Stromberg-Gymnasium in Vaihingen/Enz
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