Befeuert von rechtskonservativen Parteien wird in Schweden gerade eine intensive Debatte um neue Atomkraftwerke geführt. Am 28. Oktober 2021 erschien in diesem Zusammenhang in der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet, eine der größten Tageszeitungen in den nordischen Ländern, ein sehr interessanter Kommentar der beiden Wissenschaftler Göran Bryntse und Thomas B Johansson.
Unsere Gastautorin Solveig Forsthoff hat den Artikel freundlicherweise ins Deutsche übersetzt.
Haben die Politiker ihren ökonomischen Verstand total verloren?
Neue Kernkraft ist unnötig in Schweden, weitaus teurer als erneuerbare Alternativen und viel gefährlicher. Die, die trotzdem auf Kernkraft setzen, nehmen große Risiken in Kauf, klimamäßig, ökonomisch und damit auch politisch,
schreiben Göran Bryntse und Thomas B. Johansson.
Zurzeit findet eine absurde Kampagne zugunsten der teuren Kernkraft statt, befeuert von der gesamten schwedischen Rechten. Haben sie ihr ökonomisches Urteilsvermögen total verloren?
Laut einer Studie von Marc Jacobson, Professor für Bau- und Umwelt-Ingenieurwesen an der Stanford University und seinen MitarbeiterInnen aus dem Jahre 2019, ist neue Kernkraft durchschnittlich je kWh 4 bis 5 mal teurer als erneuerbare Energie und verursacht in einer Lebenszyklusperspektive einen ca. zehnmal so hohen CO₂-Ausstoß.
Im Durchschnitt dauert es in Europa fast 20 Jahre, um eine neue Kernkraftanlage zu bauen. Jeder neue Reaktor kostet im Vergleich zu erneuerbaren Energien über seine Lebensdauer mindestens 300 Milliarden schwed. Kronen (umgerechnet ca. 30 Mrd. €) mehr.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Vattenfalls ehemaliger Chef, Magnus Hall, 2019 erklärte, dass neue Kernkraftwerke nicht auf dem Plan stehen, oder dass der ehemalige Generaldirektor Mikael Odenberg (Parteimitglied der Moderaten) dieses Jahr erklärte, dass „kein normaler Mensch heute neue konventionelle Reaktoren bauen will“.
Die Kernkraftverfechter verweisen auf kleine modulare Reaktoren, die für die Serienproduktion in Fabriken bestimmt sind. Sie gelten als preiswert und äußerst sicher.
Das sind die unerfüllten Hoffnungen der Atomlobby. Solche Reaktoren gibt es noch nirgendwo auf der Welt in kommerzieller Anwendung.
Der schwedische Kraftwerksbetreiber Blykalla setzt darauf, seinen ersten kommerziellen modularen Reaktor bis 2032 in Betrieb zu nehmen. Das ist allerdings viel zu spät, um etwas an der Klimaproblematik zu ändern.
Schwedens jährlicher Stromverbrauch beläuft sich zurzeit auf ca 140 TWh bei einer Stromproduktion von ca 165 TWh/Jahr. Durch den Ausbau der Windkraft wächst die Stromproduktion aktuell kräftig. Der Stromüberschuss wird exportiert.
Die aufgrund des Klimawandels angestrebte vollständige Elektrifizierung wird voraussichtlich zu einem zusätzlichen Stromverbrauch im Transportsektor von 15 TWh im Jahr führen. Hybrite (fossilfreier Stahl) und Erzbergbau werden dann weitere 50 TWh im Jahr benötigen.
Mit der Stilllegung der vorhandenen sechs Atomreaktoren, die zurzeit ca. 50 TWh im Jahr produzieren, läge der Bedarf an neuer Stromproduktion in den 2030ern bei zusätzlich ca. 100 TWh pro Jahr.
Es gibt ein großes Potential für den Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien, um diesen Bedarf zu decken. Dabei ist die Offshore-Windkraft von größter Bedeutung.
Laut einem Regierungsbericht gibt es technisches Potential für Offshore-Anlagen entlang der schwedischen Küste von 3.000 TWh.
Beantragte neue Windkraftprojekte für den Anschluss an das schwedische Stromnetz entsprechen ca. 500 TWh im Jahr. Weitere Anlagen können parallel zur steigenden Stromnachfrage zugebaut werden.
Die Frage nach der Stromversorgung in windstillen Phasen ist berechtigt. Es gibt viele Optionen, wie eine sehr hohe Verfügbarkeit gewährleistet werden kann, indem Strom auf unterschiedliche Arten gespeichert wir, zum Beispiel Wasserkraftwerke, Pumpkraftwerke, Batterien sowie Effizienz- und Lastmanagement.
Heutzutage wird die ausgebaute Wasserkraft als Stromerzeugungs- und Speichermethode genutzt. Die Speicherkapazität ist groß.
Die Produktion von Wasserstoff bei hoher Stromausbeute durch Windkraft ist sehr vielversprechend, die Technik steht zur Verfügung und die Systeme entwickeln sich schnell weiter. Wasserstoff kann sowohl als kurzzeitiger wie auch als saisonaler Speicher genutzt werden.
Die Schlussfolgerung ist, dass neue Kernkraft in Schweden unnötig, wesentlich teurer als erneuerbare Alternativen und außerdem viel gefährlicher sind.
Sie kann darüber hinaus nur einen sehr begrenzten Beitrag leisten, der sehr spät in der Transformation des Energiesystems ins Spiel käme, die innerhalb der nächsten 20 Jahre erfolgen muss.
Derjenige, der auf Kernkraft setzt, nimmt große Risiken für das Klima in Kauf, aber auch ökonomische und damit auch politische Risiken.
Hier geht es zum Originalartikel.
Göran Bryntse, PhD, ist Vorsitzender der schwedischen Organisation für erneuerbare Energien, SERO. Er ist außerdem Vorstandsmitglied von der European Renewable Energy Federation (EREF), und Assistenzprofessor für energieeffiziente Technologie an der Strömstad Academy. Von 1998 bis 2003 war er Vorstandsmitglied der schwedischen Nationalen Energiebehörde.
Thomas B Johansson ist Professor emeritus beim Internationalen Institut für industrielle Umweltökonomie
Foto von Ilja Nedilko auf Unsplash
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