Zustand der Kernkraft weltweit: Erwartungen verfehlt

Gastartikel von Joshua Ben

Der neue World Nuclear Industry Status Report ist veröffentlicht: Interessanter Lesestoff für alle Fans der Kernenergie… und solche die es noch nie waren. Denn beide Lager werden dort mit (unangenehmen) Fakten konfrontiert.

  • Mitte 2023 waren weltweit 407 Reaktoren aktiv, vier weniger als im Vorjahr, 31 weniger als beim Spitzenwert im Jahre 2002.
  • Süd-Korea hat mit seinen staatlichen Atomkraftwerken einen Rekordverlust von 25 Mrd. US-Dollar eingefahren… und nun insgesamt Schulden in Höhe von 149 Mrd. US-Dollar nur mit dem Atomgeschäft gemacht.
  • Frankreich konnte den Schuldenberg auf nunmehr 70 Mrd. US-Dollar steigern. Die Kosten des Atomkraftwerkbaus in Flamanville sind auf mittlerweile 12.600 US-Dollar pro Kilowatt gestiegen. Ende offen. Es werden noch Wetten angenommen, ob die 15.000-Marke geknackt wird. Zum Vergleich: Die Kosten für Windkraftanlagen liegen zwischen 1.200 und 2.000 US-Dollar pro Kilowatt.
  • Die bisherigen Baukosten der beiden britischen Reaktoren am Standort Hinkley Point C (Leistung jeweils 1.600 MW) sind auf 44 Mrd. US-Dollar angestiegen. Fertigstellung nicht vor 2027.
  • Nach 10 Jahren des Baus liegen die Kosten der zwei neuen Reaktoren in Vogtle, USA, (elektrische Leistung jeweils 1.117 MW) bei mittlerweile 35 Mrd. US-Dollar. Die sollen nach 10 Jahren Bauzeit aber tatsächlich ans Netz gehen.
  • Die Hoffnungen auf die Praxistauglichkeit von Small Modular Reactors (SMR) haben einen herben Dämpfer bekommen, nachdem es zu Kostensteigerungen von 75% kam. Wohlgemerkt… noch bevor mit dem Bau begonnen wurde und ohne zu wissen, ob das Konzept überhaupt praxistauglich ist. Das wollte man mit dem Prototypen eigentlich erst nachweisen.

Aber es gibt auch gute Nachrichten für Kernenergie-Fans: Die Welt baut wieder neue Atomkraftwerke. Naja… eigentlich baut China wieder neue Atomkraftwerke:

Neu installierte und stillgelegte Atomreaktoren weltweit
Neu installierte und stillgelegte Atomreaktoren weltweit
  • Wir alle erinnern uns, als China im Jahr 2015 ankündigte, 80 neue Reaktoren bis 2030 bauen zu wollen? Mittlerweile sollen es noch 23 werden. Mit der Option auf 45 weitere… wenn sich die Konzepte bewähren. Sicherlich nur ein Zufall, dass sich China nicht der Initiative jener Länder anschließen wollte, die auf dem Weltklimagipfel nun eine Allianz für die Verdreifachung der Kernenergie auf dieser Erde schmieden wollten. Die Dinger werden selbst den Chinesen irgendwie zu teuer.
  • Polen möchte neue Atomkraftwerke bauen, mit einer installierten Leistung zwischen 6 und 9 GW. 2015 waren hierfür Kosten von 15 Mrd US-Dollar veranschlagt, 2022 lagen die ersten Angebote von Firmen vor: Das günstigste Angebot stammte von einem koreanischen Konsortium, welches Reaktoren mit einer Leistung von 8,4 GW für 26,7 Mrd. US-Dollar angeboten hatte. Die wollten sich aber Anteile von 30% an den neu zu errichtenden Reaktoren sichern; Also hat eine amerikanische Firma die Aufträge erhalten: 6,7 GW für 31,3 Mrd. US-Dollar. Ein Schnäppchen. Dass Polen überhaupt keine Erfahrung mit dem Betrieb von Atomreaktoren hat und daher weitere Kosten in Milliardenhöhe zu erwarten sind… geschenkt.
  • Besonders möchte ich meinen Kernenergie-Freunden allerdings das Kapitel über die Zuverlässigkeit der französischen Atomkraftwerke ans Herz legen: Es ist mit ‚Another Worst Performance in Decades‚ ziemlich treffend überschrieben. Statistisch gesehen stand jedes einzelne Atomkraftwerk in Frankreich an 152,1 Tagen im Jahr still. Was schon ziemlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass Kernenergiefans von Blackouts und Untergangsszenarien faseln, wenn in Deutschland mal 5 Tage Dunkelflaute herrscht. Da müsse man godzillionen von Ersatzkraftwerken bereithalten, damit nicht das gesamte Energiesystem in Deutschland zusammenbreche! Die Franzosen sind da deutlich cleverer: Die betreiben (statistisch gesehen) einfach ein zweites Atomkraftwerk als Ersatzkraftwerk für das erste 😁 So sieht Energiesicherheit aus.
Verfügbarkeit französcher Kernkraftwerke
Verfügbarkeit französcher Kernkraftwerke 2022
  • Es sind die kleinen Geschichten, die an der weltweiten Kernenergie so faszinieren. Brasilien plant beispielsweise seit 1984 (richtig gelesen) den Bau eines neuen Reaktorblocks in Angra. Das Land hat, geschüttelt von Korruption und Misswirtschaft, mittlerweile 13,6 Mrd. US-Dollar für einen Reaktor mit einer installierten Leistung von 1.350 MW ausgegeben. Fertigstellungsgrad 62,8%. Unter 22 Mrd. US-Dollar wird’s also nix werden… wenn die Preise stabil bleiben.
  • Ein echtes Erfolgsmodell ist allerdings der Bau des Kernkraftwerks El Dabaa in Ägypten (installierte Leistung 4.800 MW). Geplante Kosten: 30 Mrd. US-Dollar. Russland finanziert die ganze Nummer mit einem Kredit über 25 Mrd. US-Dollar und darf dafür über die gesamte Lebensdauer den Kernbrennstoff liefern… natürlich gegen Bezahlung. So geht private public partnership… äh… public public partnershit… äh… is ja auch egal. Die Inbetriebnahme verzögert sich leicht, weil Russland keine Teile liefern kann. Man munkelt, Russland habe seine Industrie auf andere Technologien umgestellt.

Wie titelte die BILD neulich so treffend? DEUTSCHLANDS GEFÄHRLICHER SONDERWEG. Mir auch völlig schleierhaft, warum wir bei der Nummer nicht mitmachen… Kann hier vielleicht jemand rechnen?

Den Originalbeitrag von Joshua Ben finden Sie hier.

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