COVID-19 und die Klimakrise (Teil 2): Gandhi Mate, Gandhi

Gastautor Alex Fischbach

Wenn wir eine demokratische Lösung für die Klimakrise finden wollen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen wird, müssen wir uns wohl mit dem Gedanken anfreunden, selber anzupacken. In der aktuellen politischen Praxis ist es für eine Regierung nahezu unmöglich, einen Klimaschutzplan vorzulegen, der sowohl von der Bevölkerung getragen wird als auch dem Pariser Klimaschutzabkommen entspricht.

Nachdem ich den letzten Beitrag auf unterschiedlichen Plattformen zur Diskussion gestellt hatte, erreichten mich vor allem im internen Forum von Bündnis 90/Die Grünen weiterführende Fragen zum Thema. Vereinfacht zusammengefasst – die Fragesteller*innen mögen mir etwaige Ungenauigkeiten verzeihen – lauteten diese wie folgt:

  • Die meisten Menschen werden ihren Fokus auf die schnelle Wiederherstellung des Status Quo richten. Das bedeutet: ein möglichst schnelles Wachstum, auch fossiler Wirtschaftszweige. Wie können wir auf ein nachhaltiges Wirtschaftssystem umschwenken?
  • Wie können wir dieses Umschwenken auch gegen den grassierenden Populismus, also zu einfache Antworten auf die Krise, verteidigen?
  • Die Regierungen einzelner Länder müssen sich vor ihrer Bevölkerung verantworten. Sie werden abgewählt, wenn sie sich einem schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in den Weg stellen. Wie sollen sich Entscheider*innen vor diesem Hintergrund für eine ökologische Transformation der Gesellschaft im Anschluss an die Corona-Krise einsetzen?
  • Die Regierungen einzelner Länder haben ihr jeweiliges Land als räumlichen und die Legislaturperiode als zeitlichen Horizont. Wie soll es da zu einer effektiven Zusammenarbeit kommen?
  • In einer Rezession wird der Klimaschutz nur noch die zweite Geige in der öffentlichen Debatte spielen. Wie bringen wir das Thema auf der Tagesordnung wieder nach ganz oben?
  • Lassen sich zeitnahe spürbare Verbesserungen für Menschen und Klima in Einklang bringen?

Ich bin kein Zukunftsforscher und kein Entscheider. Trotzdem habe ich mir die letzten Tage einige Gedanken zu diesen Fragen gemacht. Und weil dieser Beitrag gewissermaßen eine Fortsetzung darstellt, ziehe ich erneut Parallelen zur aktuellen Corona-Krise.

 

The Hammer and the Dance

Mittlerweile haben sich die meisten von uns auf vorübergehende Einschränkungen des Alltags eingestellt. Dass der aktuelle Zustand nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann, sollte mit Blick auf unsere Bürgerrechte sowie psychische und wirtschaftliche Folgen der Kontaktsperre klar sein. Es zeichnet sich allerdings ab, dass wir auch nach dem 20. April Einschränkungen in Kauf nehmen werden müssen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Derzeit wird heiß diskutiert, wie eine dauerhafte Eindämmung des Virus unter Gewährung größtmöglicher Freiheiten für uns Bürger*innen aussehen könnte. Am weitesten hat sich in der Diskussion die Strategie mit dem klingenden Titel „The Hammer and the Dance“ verbreitet. Sie beschreibt zwei Phasen der Viruseindämmung.

In der „Hammerphase“ befinden wir uns momentan. Dabei kommt das gesellschaftliche Leben weitestgehend zum Erliegen. So wird die Ausbreitung des Virus stark reduziert. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines Virus wird mit der Reproduktionsrate R angegeben: Bei einer Reproduktionsrate R = 3 steckt eine infizierte Person drei weitere Personen an. Es geht also darum R zu verringern. Fällt R unter 1, so ist die exponentielle Ausbreitung des Virus gestoppt und die Fallzahlen gehen zurück.

In den kommenden Wochen soll also evaluiert werden, welche Maßnahme die Ausbreitung des neuen Coronavirus wie stark reduziert. Ließen sich verschiedenen Maßnahmen und Einflussfaktoren genaue Werte zuordnen, um die sie die Ausbreitung verlangsamen, so könnten Entscheidungsträger*innen auf dieser Grundlage Maßnahmen „an- und abschalten“. Nehmen wir an, COVID-19 verbreitet sich ohne Gegenmaßnahmen mit R = 2,6. Entscheidungsträger*innen läge nun ein wissenschaftlich überprüfter Maßnahmenkatalog vor, der jeder Maßnahme und jedem sonstigen Einflussfaktor eine bestimmte Reduktion von R zuweist:

Einflußfaktor R
Temperaturen über 20° C – 0,3
Großveranstaltungen verboten – 0,2
Abstandsmarkierungen in öffentlichen Gebäuden und Supermärkten -0,05
Schul- und Universitätsschließungen -0,25
usw.

Diese Tabelle ist nur ein Beispiel. Meines Wissens existiert ein solches Instrument noch nicht.

Anhand dieser Liste könnten Politik und Verwaltung nun anhand tagesaktueller Fallzahlen entscheiden, welche Maßnahmen wirklich nötig sind, um das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen, und gleichzeitig so viele Freiheiten wie möglich erlauben. Bei diesem Szenario würde die Kurve mit den Fallzahlen immer unterhalb der Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems schwanken (also „tanzen“). Warum lässt sich die Ausbreitung nicht einfach dauerhaft auf 0,95 oder 1,1 festlegen? Zunächst einmal hängt die Verbreitung vermutlich von zu vielen Faktoren ab, um eine solche Verstetigung zu erreichen. Darüber hinaus geht ein dauerhaftes R ≤ 1 mit zu starken Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens einher, um dauerhaft aufrecht erhalten zu werden. R > 1 bedeutet hingegen immer exponentielles Wachstum, kann also nur über einen beschränkten Zeitraum verkraftet werden, bis die Fallzahlen wieder zu hoch sind.

„To a man with a hammer, everything looks like a nail.“ (Mark Twain)

Okay okay, aber was hat das jetzt alles mit der Klimakrise zu tun? Ich will die Parallelen zwischen Klima- und Corona-Krise nicht überstrapazieren. Allerdings haben wir es in beiden Fällen mit Problemen zu tun, die ein exponentielles Wachstum aufweisen. Wie man an der folgenden Grafik sieht, hat die wirtschaftliche und technologische Entwicklung seit der Industriellen Revolution dazu geführt, dass nicht nur die Bevölkerung und das weltweite Bruttoinlandsprodukt sprunghaft angestiegen sind, sondern auch der CO2-Ausstoß, die Versauerung der Meere, die Entwaldung, und so weiter.

Wenn wir die Hammer-und-Tanz-Methode auf den Klimaschutz beziehen würden, müssten wir zunächst versuchen, die Klimagas-Emissionen für einen überschaubaren Zeitraum massiv zu senken – auch durch Maßnahmen, die keine dauerhafte Lösung sind. Doch ist das überhaupt sinnvoll? Möglicherweise.

Noch mal zur Erinnerung: Die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 sollen eine Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden. Wir verschaffen der Forschung damit Zeit, Medikamente und einen Impfstoff zu entwickeln. Um eine langsame Durchseuchung zu erzielen und so Herdenimmunität herzustellen, eignet sich die Hammermethode nicht, wie Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem aktuellen Video vorrechnet.

Ein zu großer Ansturm von Patient*innen mit schweren Verläufen des Coronavirus würde nicht nur dazu führen, dass diese Patienten (aufgrund mangelnder Intensivbetten, Beatmungsgeräte usw.) nicht mehr vernünftig behandelt werden können. Er würde auch dafür sorgen, dass die Sterblichkeitsrate bei allen anderen Krankheitsbildern steigt. Wenn ein Krankenhaus erst einmal an seine Kapazitätsgrenzen stößt, wird auch die Versorgung von Unfallopfern, Schlaganfallpatient*innen und Krebskranken schwierig. Schon jetzt bekommen dies einige Teile der Gesellschaft zu spüren. So werden etwa Pflegekräfte aus der häuslichen Pflege abgezogen, um in Krankenhäusern auszuhelfen. Es handelt sich bei der Auslastung des Gesundheitssystems durch COVID-Erkrankungen also um ein Kipp-Element. Wenn dieser Teil im System kippt, dann hat das schwerwiegende Folgen für andere Bereiche.

Kipp-Elemente existieren auch im Erdklimasystem: Durch das Abschmelzen des sommerlichen arktischen Meereises, des Grönländischen Eisschildes und des Westantarktischen Eisschildes wird z.B. weniger Sonnenlicht reflektiert, wodurch sich die Erde immer schneller aufheizt, was wiederum das Abschmelzen dieser Eisflächen beschleunigt. Das Abschmelzen des Festlandeises führt zu einem Ansteigen des Meeresspiegels. Je höher dieser steigt, desto mehr besiedelte Küstenregionen werden wir in Zukunft aufgeben müssen. Bereits heute leben in gefährdeten Küstengebieten über 500 Millionen Menschen. Wenn sich diese Menschen eines Tages vor dem Meer ins Landesinnere retten müssen, wird das große soziale Verwerfungen mit sich bringen. Ich erinnere mich nur ungern an das Verhalten einiger Mitbürger*innen im Jahr 2015, als Deutschland gerade mal 890.000 Schutzsuchende aufnahm. Im Vergleich zu den Flüchtlingsbewegungen, die wir im Zuge der Klimakrise zu erwarten haben, werden uns diese Zahlen in Europa eines Tages sehr klein erscheinen.

In der Klimaforschung wird derzeit darum gestritten, ob sich das Abschmelzen des arktischen Meereises noch aufhalten lässt. Vermutlich haben wir diesen Kipp-Punkt aber bereits überschritten. Auch andere Kipp-Punkte rücken mit Blick auf die letzten Jahre in erschreckendem Tempo näher. Vielleicht sollten wir angesichts brennender borealer Nadelwälder, sterbender Korallenriffe und schmelzender Permafrostböden den „Hammer“ wenigstens in Betracht ziehen.

Leider gilt für die Klimakrise nach COVID-19 vermutlich das Gleiche wie vorher: Für die meisten Menschen ist die Bedrohung zu unkonkret, zu wenig spürbar, um sich auf grundlegende Veränderungen in ihrem Alltag einzulassen. Für Menschen die sich seit Längerem mit der Klimakrise beschäftigen, ist das unverständlich, da die Bilder der brennenden Kleinstadt Paradise in Kalifornien oder des überschwemmten Dorfes Narikoso auf Ono ebenso konkrete Mahnungen sind wie die Bilder der überfüllten Krankenstationen in der Lombardei. Der Unterschied besteht darin, dass einzelne Naturkatastrophen nicht mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden können, während sich der neue Coronavirus einfach als Auslöser nachweisen lässt. Das ist in gewisser Weise tragisch, weil durch die Klimakrise mehr Menschenleben bedroht sind als durch COVID-19. Trotzdem halten sich aktuell viele Menschen an die Ratschläge der Virolog*innen und der Politik, die den Warnrufen von Klimawissenschaftler*innen bisher keine große Beachtung geschenkt haben. Dabei gehen die aktuellen Einschränkungen weit über das hinaus, was Klimaschützer*innen sich in der Vergangenheit zu fordern getraut hätten. Ich stelle das ausdrücklich mit Verwunderung fest und nicht, weil es mir irgendwie als Vorbild für eine Lösung der Klimakrise erscheint. Ziel der Klimagerechtigkeitsbewegung ist eine weltweite freie und solidarische Gesellschaft, die im Einklang mit den planetaren Grenzen lebt. Niemand von uns möchte morgen in einer Ökodiktatur aufwachen. Wer die Klimagerechtigkeitsbewegung als „Ökofaschisten“ verunglimpft, hat entweder nichts verstanden oder eine fragwürdige Agenda.

Als Bürger*innen erwachsen werden

Es sollte uns allen klar sein, dass wir nicht so weiter machen können wie bisher. Durch die Klimakrise ist unsere Art zu leben bedroht wie nie zuvor. Trotzdem sind Veränderungen schwer. Wenn wir weiter in einer liberalen Demokratie leben und trotzdem eine lebenswerte Zukunft haben wollen, dann bleibt uns nur eins übrig: Wir müssen als Bürger*innen erwachsen werden.

Als Kind macht jeder Mensch ein Stadium der Machtlosigkeit durch, und die Wahrheit ist eine der stärksten Waffen derjenigen, die nicht über Macht verfügen. Aber die Wahrheit ist für den Menschen nicht nur wichtig im Hinblick auf seine Orientierung in der Außenwelt; seine innere Stärke hängt weitgehend davon ab, ob er die Wahrheit über sich selber kennt.

Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 19. Auflage, dtv München 2014, S.180.

Wir alle stecken in unserem privaten Hamsterrad fest. Wir müssen Miete zahlen, Kredite bedienen, für das Alter vorsorgen und Steuern zahlen. Um an der Gesellschaft partizipieren zu können, müssen wir arbeiten gehen. Wenn das Gehalt steigt, gewöhnen wir uns an einen neuen Lebensstandard und müssen im gleichen Tempo oder noch schneller weiterarbeiten, um ihn zu halten. Durch die Gesellschaft wird uns zu verstehen gegeben, dass das so normal ist. Vielleicht lassen uns sogar enge Bezugspersonen spüren, dass sie materielle Bedürfnisse haben, die wir bedienen sollen. Jede*r von uns hat ganz eigene legitime Gründe dafür, weshalb das Abbremsen des Hamsterrades gerade nicht möglich ist. Weil dieser gesellschaftliche Druck unsere ganze Aufmerksamkeit fordert, haben wir es uns politisch in einer Opferrolle gemütlich gemacht.

Natürlich engagieren sich viele Menschen auch ehrenamtlich. Trotzdem: Im öffentlichen politischen Diskurs benehmen wir uns häufig wie Kinder. Wir verlangen von der Politik Lösungen, sind aber oft mit den Vorschlägen unzufrieden. Demonstrationen und Protestaktionen GEGEN politische Entscheidungen sind dann vielfältig, die Empörung im Netz kennt keine Grenzen. Diejenigen, die sich FÜR konkrete Verbesserungen einsetzen, scheinen allerdings in der Minderheit zu sein. Wie Jugendliche, die sich unentwegt beschweren, aber auf die Frage der Eltern „Was würdest DU denn gerne machen?“ auch keine Antwort wissen, wollen wir alle weiterhin in den Urlaub fliegen, kiloweise Fleisch essen und auf keinen Fall Windräder hinter dem Haus stehen haben, verlangen aber von der Politik die Lösung der Klimakrise.

Wir haben uns an eine Expert*innendemokratie gewöhnt, in der komplexe Fragen für uns von anderen beantwortet werden. In einigen Bereichen mag das sinnvoll sein, aber in Bezug auf einen radikalen gesellschaftlichen Wandel zur Beendigung der Klimakrise ist dieses Vorgehen zum Scheitern verurteilt. Die Fakten zu den Folgen der Krise liegen auf dem Tisch. Die Lösungsansätze aber auch. Für die Klimakrise gilt deshalb:

Die Behauptung, die Probleme seien zu kompliziert, als daß der Durchschnittsmensch sie verstehen könne, ist dabei nur eine Verschleierungstaktik. Mir scheint dagegen, daß viele der Grundprobleme im Leben des einzelnen und der Gesellschaft sehr einfach, ja sogar so einfach sind, daß man von jedermann erwarten könnte, daß er sie begreift. Wenn man sie als so ungeheuer kompliziert hinstellt, das nur ein ‚Spezialist‘ sie verstehen kann, und auch dieser nur auf seinem begrenzten Gebiet, dann nimmt man – oft sogar absichtlich – den Leuten den Mut, in bezug auf die wirklich wichtigen Probleme ihrer eigenen Denkfähigkeit zu vertrauen. Der einzelne Mensch steht dann hilflos einer chaotischen Masse von Daten gegenüber und wartet mit einer rührenden Geduld darauf, daß die Spezialisten herausfinden, was man zu tun habe und welcher Weg einzuschlagen ist.

Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 19. Auflage, dtv München 2014, S.181.

Was ist damit gemeint, wenn ich schreibe, dass wir als Bürger*innen „erwachsen werden müssen“? Es heißt, dass wir uns unserer Verantwortung für das Gemeinwesen wieder bewusst(er) werden müssen, und uns im öffentlichen Raum entsprechend verhalten. Der französische Journalist und Europaabgeordnete Raphaël Glucksmann trennt in Die Politik sind wir! das Privatleben vom Leben als Staatsbürger. Viele von uns beklagen nur zu gern die Dysfunktionalität demokratischer Prozesse. Aber sind wir auch bereit staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen? Oder ist es uns dafür zu bequem geworden, in der Rolle des dauernörgelnden Kindes? Haben wir uns vielleicht einreden lassen, dass die politische Sphäre für den Durchschnittsbürger zu komplex geworden ist? Oder hat der Individualisierungsdruck sogar dazu geführt, dass neben der Privatsphäre das Politische in unserem Leben keinen Platz mehr findet? Wollen wir in einer postdemokratischen Expertokratie leben? Oder glauben wir noch an die Werte der Französischen Revolution, an Gewaltenteilung, universelle Menschen- und Bürgerrechte, an Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit? Was ist aus der Idee des Gesellschaftsvertrages geworden, der festlegt, dass der Staat die Sicherheit seiner Bürger*innen zu gewährleisten hat?

Ich unterstelle, daß die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht weiterbestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art des Daseins nicht änderte.

Da die Menschen nun keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinen und lenken können, haben sie kein anderes Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluß eine Summe von Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand, und diese aus einem einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen.

Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Peter Massing, Gotthard Breit & Hubertus Buchstein: Demokratietheorien, 8. Auflage, Schwalbach/Ts 2012, S. 123.

L’État, c’est nous !

Wenn wir eine demokratische Lösung für die Klimakrise finden wollen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen wird, müssen wir uns wohl mit dem Gedanken anfreunden, selber anzupacken. In der aktuellen politischen Praxis ist es für eine Regierung nahezu unmöglich, einen Klimaschutzplan vorzulegen, der sowohl von der Bevölkerung getragen wird als auch dem Pariser Klimaschutzabkommen entspricht. Unsere Lebensgewohnheiten sind so stark von fossilen Energieträgern geprägt, dass wir aktuell vermutlich jeden Klimaschutzplan, der uns „von oben“ auferlegt wird, als Gängelung empfinden würden. Wirksamer Klimaschutz muss deshalb durch den politischen Willen der Bevölkerung legitimiert sein. Der politische Wille bildet sich nicht in Meinungsumfragen ab, auch wenn diese gegebenenfalls Rückschlüsse auf selbigen erlauben. Bei Meinungsumfragen geben Privatpersonen knappe Antworten auf vorgefertigte Fragen. Ein politischer Wille wird erst sichtbar, wenn gut informierte Staatsbürger*innen um Lösungen auf komplexe Fragestellungen ringen. Diese Art der Auseinandersetzung existierte nicht nur im antiken Athen, es gibt solche Formate auch heute wieder.

Die Aktivist*innen von Extinction Rebellion schlagen Bürger*innenversammlungen vor. Dazu haben sie gute Gründe: 2013 beriet ein Parlament aus ausgelosten Bürger*innen über die Abschaffung des Senats, eine Reform des Wahlrechts und die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Bei diesem Prozess trafen die unterschiedlichsten Menschen zusammen und fällten am Ende eine gemeinsame Entscheidung, wie Bastian Berner es in 180 Grad – Geschichten gegen den Hass eindrucksvoll beschreibt. In Kingersheim, einer französischen Kleinstadt im Elsass, werden sogar bereits seit 1998 gute Erfahrung mit einer direkten Bürger*innenbeteiligung gemacht, wie Raphaël Glucksmann berichtet. Dort setzen sich die Räte zu 40% aus freiwilligen, zu 20% aus direkt von Vorhaben betroffenen und nochmals zu 40% von ausgelosten Personen zusammen. Die Vorteile von solchen Entscheidungsgremien liegen auf der Hand: Sie sind nicht an Wahlperioden gebunden und können deshalb in längeren Zeitabschnitten denken. Bürger*innen haben außerdem keinen regelmäßigen Kontakt mit Lobbyist*innen. Dafür sind sie von Entscheidungen direkt betroffen und somit nicht nur für das Gemeinwohl, sondern auch für sich selbst verantwortlich.

Politik ist keine Wissenschaft, und wir sind alle gleich wissend oder unwissend, wenn es um die Frage des Gemeinwohls geht. Wir können und müssen uns deshalb alle am kollektiven Denkprozess und an der Regierung der res publica beteiligen. Wir alle sind die Garanten der Institutionen, die wir uns gegeben haben.

Raphaël Glucksmann: Die Politik sind wir!, München 2019, S. 152f.

Dieser Beitrag ist schon wesentlich länger, als ich es geplant hatte. Aber wir sind nun endlich am Schluss angekommen, was mich zurück an den Anfang führt: Viele der Fragen, die mir in den vergangenen Tagen zu einer erfolgreichen Wende in der Klimapolitik gestellt wurden, lassen sich in meinen Augen nur mit mehr Demokratie beantworten. Regionale und nationale Bürger*innengremien können in nahezu allen Politikfeldern nicht nur für eine höhere Akzeptanz, sondern tatsächlich für bessere Entscheidungen sorgen. Dazu muss die Politik ihnen natürlich entsprechende Macht überlassen. Es gibt zu viele erfolgreiche Feldversuche, als dass es sich nicht lohnen würde, diesen Weg zu beschreiten. Engagierte Menschen tragen schon heute z. B. die Hauptlast der Energiewende, wie Energiegenossenschaften und Einzelpersonen vielerorts beweisen. In Klimawende von unten lassen sich etliche Beispiele nachlesen, bei denen staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl und Umweltbewusstsein große Konzerne in die Schranken wiesen und der persönliche Einsatz „ganz normaler Leute“ einen erheblichen Beitrag zum Gemeinwesen beitrug. Was wäre alles möglich, wenn wir diese produktive Energie entfesseln könnten?

Zum Abschluss gibt es also ein paar Antworten auf die eingangs gestellten Fragen. Die hier dargelegten Überlegungen sind allerdings nur eine mögliche Denkrichtung. Eine weitere hypothetische Lösung der Klimakrise kommt in völlig anderem Gewand daher und wird vermutlich der nächste Beitrag auf meinem Blog.

 

Die meisten Menschen werden ihren Fokus auf die schnelle Wiederherstellung des Status Quo richten. Das bedeutet: ein möglichst schnelles Wachstum, auch fossiler Wirtschaftszweige. Wie können wir auf ein nachhaltiges Wirtschaftssystem umschwenken?

Indem wir die benötigten Veränderungen selber mitverantworten. Dazu müsste die Politik Bürger*innengremien natürlich erst einmal diese Macht geben. Bei großer öffentlicher Beteiligung an der Entscheidungsfindung, wäre dann allerdings angesichts nahender Kipp-Punkte im Klimasystem vielleicht sogar eine „Hammerphase“ denkbar, in der für einen beschränkten Zeitraum besonders klimagasintensive Vorgänge möglichst abgestellt werden. Das ist natürlich hochgradig unwahrscheinlich und eher ein Gedankenexperiment. Sehen wir als Bürger*innen aber die Notwendigkeit für eine Transformation des Wirtschaftssystems, können wir uns auch gemeinsam entscheiden, solidarisch mit denen umzugehen, die diese Transformation zuerst zu spüren bekommen. Die Marktmacht der Kohlekraftbetreiber zu brechen sollte z. B. nicht bedeuten, dass wir die Beschäftigten aus dieser Branche fallen lassen.

 

Wie können wir dieses Umschwenken auch gegen den grassierenden Populismus, also zu einfache Antworten auf die Krise, verteidigen?

Bürger*innen, die nachhaltige Lösungen für echte Probleme suchen, finden sich hoffentlich nicht mit populistischen Einfachantworten ab. Sie sind weniger anfällig für den Lobbyismus großer Konzerne, weil sie am Fortbestehen von Quasi-Monopolen kein Interesse haben.

 

Die Regierungen einzelner Länder müssen sich vor ihrer Bevölkerung verantworten. Sie werden abgewählt, wenn sie sich einem schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in den Weg stellen. Wie sollen sich Entscheider*innen vor diesem Hintergrund für eine ökologische Transformation der Gesellschaft im Anschluss an die Corona-Krise einsetzen?

Regierungen müssen die Bevölkerung nicht nur symbolisch, sondern real an Entscheidungen mitwirken lassen. Eine große gesellschaftliche Transformation muss, wenn sie friedlich verlaufen soll, von der Mehrheit getragen und sogar verantwortet werden.

 

Die Regierungen einzelner Länder haben ihr jeweiliges Land als räumlichen und die Legislaturperiode als zeitlichen Horizont. Wie soll es da zu einer effektiven Zusammenarbeit kommen?

Eine dauerhafte Zusammenarbeit von Staaten kann wahrscheinlich nur durch übergeordnete Institutionen und einen kontinuierlich arbeitenden Verwaltungsapparat erzielt werden. Der politische Wille für eine schnelle Transformation muss sich allerdings zuerst bei den Bürger*innen bilden, bevor sich auch Regierungen über mehrere Legislaturperioden hinweg effektiv dafür einsetzen werden.

 

In einer Rezession wird der Klimaschutz nur noch die zweite Geige in der öffentlichen Debatte spielen. Wie bringen wir das Thema auf der Tagesordnung wieder nach ganz oben?

Die Klimakrise ist mittlerweile so akut, dass sie sich selber wieder in den Mittelpunkt stellen wird. Das müssen wir als Bevölkerung zum Anlass nehmen, um schnell wieder öffentlichen Druck auf unsere Regierungen aufzubauen.

 

Lassen sich zeitnahe spürbare Verbesserungen für Menschen und Klima in Einklang bringen?

Das hängt davon ab, was man unter Verbesserungen für die Menschen versteht. Wenn eine gerechtere Wohlstandsverteilung und mehr gesellschaftliche Partizipation dazu zählen, dann ja. Im Sinne eines immer mehr konsumierenden homo oeconomicus nicht.

 

 

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