Disruption – wenn sich alles ändert

Die Energiewende ist nicht mehr aufzuhalten

Preisentwicklung Solarstrom

Diesen Artikel gibt es auch als Video.

Während Medien und Politik noch diskutieren, ob die Energiewende bezahlbar ist oder wie teuer sie wird, hat sich die Wirtschaft längst entschieden: Die Energiewende wird kommen, sie hat längst begonnen und sie wird unschlagbar billig. Sie wird billiger als jede Art der Energieerzeugung, die wir je hatten. Das glauben Sie nicht? Lassen Sie uns mit ein wenig Mathematik beginnen (und keine Angst, es geht ganz schnell und tut auch gar nicht weh).

Mathematik zum Einstieg

Exponentielles Wachstum und exponentieller Zerfall

Erinnern Sie sich noch an Corona und was Sie in diesem Zusammenhang über exponentielles Wachstum gelernt haben? Also die Tatsache, dass sich die Anzahl Infizierter y in jedem Schritt x verdoppelt? Oder auch verdreifacht oder ver-zwei-komma-fünf-facht? Diese Zahl, um wieviel sich die Anzahl verändert, war die Reproduktionszahl R. Allgemein aufgeschrieben, sieht so eine Funktion folgendermaßen aus (und y(0) ist hier die Anzahl Infizierter zum Schritt 0, also am Anfang):

y(x) = y(0) * R^x

Und wenn man sie aufmalt, sieht sie so aus (in diesem Beispiel starten wir mit einem Infizierten, der in jedem Schritt einen weiteren ansteckt):

Exponentialfunktion

Nun wissen wir aber noch, dass R auch kleiner als 1 sein kann. Denn dann steigt die Kurve nicht mehr, sondern sie fällt. Und zwar genauso schnell, wie sie bei R > 1 gestiegen ist:

y(x)=64*(1/2)^x

Die orange Kurve nennt man exponentielles Wachstum und die graue exponentiellen Zerfall und diese Kurven begegnen uns überall in der Natur – die Zerfallskurven z.B. beim radioaktiven Zerfall.

Logarithmische Darstellung

Solche Kurven kann man nun auf eine spezielle Weise aufzeichnen, denn da man bei den großen Zahlen irrsinnig viel Platz braucht, kann man bei den kleinen gar nichts mehr erkennen – und um das auszugleichen, wählt man für die y-Achse eine logarithmische Skala. Auf dieser Skala ver-R-fachen sich die Werte mit jedem Schritt. Mit einer solchen Skala sieht obiges Bild dann folgendermaßen aus:

Exponentieller Zerfall Logarithmische SkalaIst Mathematik nicht wunderschön? Man sieht ganz wunderbar, wie sich die Werte mit jedem Schritt verdoppeln (orange Kurve) bzw. halbieren (graue Kurve).

Zerfallskurven der Kosten für Solarstrom

Was hat das alles nun mit der Energiewende und Disruption zu tun? Schauen wir noch einmal auf das Titelbild dieses Artikels (diesmal die Originalgrafik):

Preise für Solarmodule in Dollar pro Watt (Lineare und Zeitskala)
Preise für Solarmodule in Dollar pro Watt (Lineare und Zeitskala)

Das sieht unserer grauen Zerfallskurve doch irgendwie ähnlich, oder? Es sind Schwankungen drin und bei den kleineren Werten kann man es nicht so recht erkennen. Aber deswegen gibt es links oben ja auch einen Knopf zum Umschalten. Den drücken wir mal:

Preise für Solarmodule in Dollar pro Watt (Logarithmische und Zeitskala)
Preise für Solarmodule in Dollar pro Watt (Logarithmische und Zeitskala)

Das sieht schon ziemlich gerade aus. Aber es geht noch besser. Wenn man nämlich die X-Achse ersetzt, und statt der Zeit die installierte Kapazität (also wie viele Solarmodule bis dahin jeweils insgesamt gebaut wurden) aufträgt (und zwar auch auf einer logarithmischen Skala – warum, dazu kommen wir noch), erhält man folgende Grafik:

Preise für Solarmodule in Dollar pro Watt (Logarithmische und Kapazitätsskala)
Preise für Solarmodule in Dollar pro Watt (Logarithmische Preis-Skala und logarithmische Kapazitätsskala zur Basis 10)

Und das ist doch ganz wunderbar gerade, oder? Na ja, bis auf die paar Beulen. Diese Kurve ist sogar derart perfekt, dass sie auf Wikipedia als Beispiel für das betriebswirtschaftliche Konzept der Erfahrungskurve dient: Dieses auch als Wrightsches Gesetz, Swansons Gesetz oder Boston-Effekt bekannte Konzept stellt fest, dass ein Produkt jedesmal um einen konstanten Faktor billiger wird, wenn sich die insgesamt produzierte Menge verdoppelt. Und die Höhe dieses Faktors nennt man Lernrate, weil die produzierenden Firmen lernen, das Produkt immer besser und günstiger herzustellen.

Und die Lernrate von Solarmodul-Herstellern ist hoch. Unglaublich hoch. Egal, welche Lokation man betrachtet, sie bewegt sich zwischen 30% und 40%:

Solare Lernraten an verschiedenen Lokationen
Solare Lernraten an verschiedenen Lokationen (x-Achse logarithmisch zur Basis 2, d.h. die installierte Leistung verdoppelt sich mit jedem Schritt)

Was bedeutet das? Zwei Dinge:

Der Preisverfall übertrifft alle Prognosen

Erstens: Die Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) und des Instituts für Anlagenverwaltung (IAM International Asset Management) waren falsch. Wieder und wieder und wieder. So als ob diese Institute das Konzept des exponentiellen Zerfalls, das wir gerade kennengelernt haben, nicht kennen – oder bewusst ignorieren. Solarstrom wurde und wird viel schneller billiger als vorhergesagt:

Fehlerhafte Prognosen des Preisverfalls von Solarmodulen
Fehlerhafte Prognosen des Preisverfalls von Solarmodulen

Solarstrom wird die billigste Energie

Der zweite Effekt ist richtig spannend: Denn schreibt man die Preisentwicklung mit der beobachteten Lernrate von 30% und einem angenommenen Ausbau von Solarenergie von 16% (das ist eine Schätzung der IEA) fort, so zeigt sich, dass selbst an teuren Standorten die Preise für Solarstrom bereits 2027 mit dem Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken konkurrieren, und bis 2037 unterschritten haben werden. An mittelteuren Standorten wird dieser Punkt, dass Solarstrom billiger ist als der Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken, bereits 2030 erreicht sein:

Prognose Preisentwicklung Solarstrom nach Jahr
Prognose Preisentwicklung Solarstrom nach Jahr

Warum ist das so? Weil bei Kohle das Minimum erreicht ist – die Lernrate ist Null, billiger als jetzt geht es nicht mehr. Konsequenterweise beginnen die Auslastungszahlen von Kohlekraftwerken bereits einzubrechen. Die Atomenergie übrigens hat eine negative Lernrate – d.h. Atomstrom wird immer teurer (weswegen die Kernkraft nicht unsere Rettung sein wird, sondern als erstes vom Markt verschwinden wird):

Vergleich der Lernkurven für unterschiedlicher Energieerzeugungstechniken
Vergleich der Lernkurven für unterschiedlicher Energieerzeugungstechniken

Noch etwas sieht man auf obiger Grafik: Auch die Lernraten von Offshore und Onshore-Windenergieanlagen sind hoch: 10% bei Offshore und 23% bei Onshore. Windstrom an Land ist sogar noch billiger als Photovoltaik!

Auch Batteriepreise fallen exponentiell

Und beim dritten Standbein der Energiewende, bei Speichern, sieht es genauso aus, die Lernrate beträgt ebenfalls knapp 20%:

Lernkurve Lithium-Ionen-Batterien
Lernkurve Lithium-Ionen-Batterien (mittlerweile sind die Preise in der Tat noch weiter gesunken und liegen inzwischen unter 150$/kWh)

Disruption

All das führt schließlich zur Disruption: Ein System stellt sich in kurzer Zeit um, ein Produkt wird in kurzer Zeit durch ein neues ersetzt. Es entsteht eine Feedback-Schleife: Geringere Kosten führen zu größerer Nachfrage, diese führen zu höhren Investitionen in Produkt und Infrastruktur, dadurch vergrößert sich das Angebot, was wiederum zu geringeren Kosten, besseren Leistungen und höherer Akzeptanz führt. Auf der anderen Seite führt die größere Nachfrage beim neuen Produkt zu geringerer Nachfrage beim alten, außerdem ist das alte Produkt teurer, weswegen sich das Angebot verringert, die Investitionen zurückgefahren werden und schlußendlich erwirtschaftet es  weniger Umsatz und weniger Profit, bis es schließlich vom Markt verschwindet.

Die Disruptions-Schleife
Die Disruptions-Schleife

Dass dies keine theoretischen Überlegungen sind, zeigen Beispiele wie Glühbirne vs offenes Licht, Autos vs. Pferdekutschen, Dieselloks vs. Dampflokomotiven, Kopiergeräte vs. Schreibmaschinen, digitale vs. analoge Fotografie, Flachbildschirme vs. Röhrenbildschirme, Streaming-Dienste vs. Videotheken, Laptops vs. Desktop-Computer, Smartphones vs. PDAs – und dasselbe beginnt gerade bei erneuerbaren vs. fossilen Energien, e-Autos vs. Verbrennerfahrzeugen, Wärmepumpen vs. Ölheizungen.

Exponentieller Ausbau der erneuerbaren Energien

Damit ist klar: Die Energiewende ist in vollem Gange, und sie wird schneller vollendet sein, als wir uns das vorstellen können. Auf der uns inzwischen wohlbekannten logarithmischen Skala sieht man überall lineare (auf einer linearen Skala also exponentielle) Ausbauraten für Solarstrom – außer in Deutschland, welches nach exponentiellem Wachstum ab 2011 stagnierte und seine Vorreiterrolle 2015 an China verloren hat und 2017 auch noch von den USA überholt wurde, und wohl demnächst auf Platz vier abrutschen wird:

installierte Solarleistung in GW für ausgewählte Länder
installierte Solarleistung in GW für ausgewählte Länder (logarithmische y-Achse über Zeit)

Bei der Windkraft sieht es ähnlich aus: Vor allem in China und den USA sind die exponentiellen Steigerungen (hier mit linearer y-Achse) gut erkennbar – Deutschland wurde bereits 2007 von den USA und 2011 von China überholt.

installierte Windleistung in GW für ausgewählte Länder
installierte Windleistung in GW für ausgewählte Länder (lineare y-Achse über Zeit)

Prognosen

Strom weltweit

Schauen wir uns die Mengen Strom an, die weltweit durch die verschiedenen Energieträger erzeugt wurden und zwar auf der logarithmischen Skala (latürnich!). Und dann versuchen wir uns mal in einer sehr einfachen Vorhersage, indem wir lediglich die Entwicklung ein paar Jahre in die Zukunft fortsetzen (natürlich wird es irgendwann zu einer Sättigung kommen, aber am Flächenbedarf wird es jedenfalls nicht scheitern):

Weltweite Stromerzeugung unterschiedlicher Energieträger (Zehnerlogarithmus von Terawattstunden)
Weltweite Stromerzeugung unterschiedlicher Energiequellen (Zehnerlogarithmus von Terawattstunden)

Wir sehen eine unglaubliche Aufholjagd von Solar- und Windstrom, und wenn die Entwicklung so weitergeht, werden beide bereits 2031 die Erzeugung durch Kohle ersetzen können. Auf der linearen Skala ist das Ganze noch beeindruckender. 2035 könnten wir die gesamte weltweite Stromerzeugung alleine durch Wind und Sonne bestreiten:

Weltweite Stromerzeugung unterschiedlicher Energieträger (Terawattstunden)
Weltweite Stromerzeugung unterschiedlicher Energiequellen (Terawattstunden)

Strom Deutschland

Wie sieht es aber in Deutschland aus? Wir hatten hier sehr unterschiedliche Phasen. Nach einem exponentiellen Anstieg bis 2007 (Wind) bzw 2011 (Sonne) wurde die Energiewende von der CDU und FDP nahezu vollständig zum Stillstand gebracht. Falls wir die damaligen Ausbauraten aber wieder erreichen, können wir folgende Prognosen einzeichnen:

Deutsche Stromerzeugung unterschiedlicher Energieträger (Zehnerlogarithmus von Terawattstunden)
Deutsche Stromerzeugung unterschiedlicher Energiequellen (Zehnerlogarithmus von Terawattstunden)

Und auf der linearen Skala sieht das Ergebnis überwältigend aus:

Deutsche Stromerzeugung unterschiedlicher Energieträger (Terawattstunden)
Deutsche Stromerzeugung unterschiedlicher Energiequellen (Terawattstunden)

Wir würden so viel Strom haben, dass die fossile Ära geradezu lächerlich anmutet. Strom im Überfluss.

Energie weltweit

Allerdings: Strom ist ja nur ein Teil der benötigten Energie. Für eine vollständige Energiewende müssen ja alle Sektoren, also insbesondere Heizung und Verkehr elektrifiziert werden. Wie sieht es denn mit dem Gesamtenergiebedarf der Welt aus? Wieder schauen wir uns die logarithmische Skala an:

Weltweiter Energiebedarf unterschiedlicher Energieträger (Zehnerlogarithmus von Terawattstunden)
Weltweiter Energiebedarf unterschiedlicher Energiequellen (Zehnerlogarithmus von Terawattstunden)

Auch hier sehen wir die Aufholjagd, und ca. 2035 könnten wir es tatsächlich geschafft haben: Sonne und Wind sind die vorherrschenden Energiequellen.

Weltweiter Energiebedarf unterschiedlicher Energiequellen (Terawattstunden)
Weltweiter Energiebedarf unterschiedlicher Energiequellen (Terawattstunden)

In dieser Betrachtung fehlt sogar noch ein sehr wichtiger Aspekt: Dass nämlich durch die Elektrifizierung sowieso die Menge der benötigten Energie massiv zurückgeht: Wärmepumpen sind mehr als drei Mal so energieeffizient wie Ölheizungen, Elektrofahrzeuge benötigen weniger als ein Drittel der Primärenergie wie Verbrennerfahrzeuge. Wir müssen also gar nicht die aktuell benötigte Primärenergie ersetzen, sondern nur ungefähr die Hälfte.

Überschussstrom

Noch etwas ist interessant: Nicht nur könnten wir Energie im Überfluss haben, diese Energie fällt auch wegen der unterschiedlichen Wetterverhältnisse sehr unterschiedlich an. Es wird also Zeiten geben, in denen wir unseren Strom aus Speichern decken, aber um dies zu minimieren (immerhin sind Speicher trotz der fallenden Preise immer noch sehr viel teurer als die Stromerzeugung) werden wir mehr Erzeugungskapazität ausbauen, als unbedingt erforderlich. Der ThinkTank RethinkX hat diesen „Sweet Spot“ für unterschiedliche Regionen berechnet. Wenn aber dann sowohl die Sonne scheint als auch der Wind weht, haben wir viel zu viel Strom. Was tun wir damit? Bisher wurde dieser Überschussstrom als Problem betrachtet, aber das ist sehr kurzsichtig gedacht. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass mit dem Vorhandensein von quasi kostenlosem Strom ganz neue Industrien entstehen werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Beispiele dafür gibt es genug: Mit dem Vorhandensein von quasi kostenlosem Internet haben sich z.B. Anwendungen entwickelt, die vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar waren.

Eine der wichtigsten Aufgaben wird es sein, damit das CO2 wieder aus der Atmosphäre zurückzuholen, eine Aufgabe die bisher unbezahlbar erscheint, es aber nicht bleiben muss. Denn wenn die Politik damit aufhört, die fossilen Energien zu schützen und stattdessen die Energiewende fördert, werden wir genug Energie dafür haben, nämlich Super-Power.

Weitere Informationen zur Disruption von Energie und Verkehr im Buch von Tony Seba, in der deutschen Übersetzung von Daniel Bannasch/Metropol-Solar

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Über Thomas Rinneberg 24 Artikel
Diplom-Technomathematiker; Software-Architekt