Die Sache mit dem Wald

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Machen wir zunächst ein Gedankenexperiment: Wo fühlen sie sich am wohlsten? Sie dürfen aus drei Szenarien auswählen:

https://www.pexels.com/de-de/foto/grune-laubbaume-auf-wald-167698/
Option 1: Sie befinden sich tief im Wald
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Option 2: Sie sind am Waldrand, ihr Blick fällt auf eine Landschaft mit Büschen und Bäumen
stanislav-klimanskii-8krv1j-huaQ-unsplash
Option 3: Sie befinden sich auf der offenen Steppe, um sie herum nur Grasland

Wenn sie sich für 1 oder 3 entschieden haben, herzlichen Glückwunsch, sie sind in der Minderheit. Die meisten von uns fühlen sich in einer abwechslungsreichen, halboffenen Landschaft wohl. Das ist ein archetypisches Erbe aus unserer Vorzeit in der afrikanischen Savanne: der weite Blick gibt uns Orientierung, wir sehen wo es etwas zu Sammeln oder jagdbares Wild gibt; bei Bedrohung jedoch können wir uns schnell in die Deckung zurückziehen. Als ich das erste Mal in Westschottland auf den Äußeren Hebriden war, brauchte es eine Weile bis ich mich an die Abwesenheit von Bäumen gewöhnt hatte. Zunächst fühlte ich mich nackt, ausgeliefert, auf dem Präsentierteller. Aber wir sind anpassungsfähig. Außerdem individuell – und sicherlich auch geprägt durch die Landschaft in der wir aufgewachsen sind.

Wir Deutschen (und nicht nur wir) haben ein verklärtes Verhältnis zum Wald: Wald wird assoziiert mit Naturnähe, Ursprünglichkeit, Wildnis. Wälder werden besetzt um sie zu schützen, Grannys for Future machen Aufforstungsaktionen, beim Wort „Nationalpark“ denken wir an den (Bayrischen) Wald [1]. Auf Demo-Plakaten lesen wir „Wald statt Asphalt“. Doch hat der Wald die Liebe in dieser Form verdient?

Natürlich?

Zunächst scheint es so, ist doch laut gängiger forstwissenschaftlicher Meinung Rotbuchenmischwald die Vegetationsform in Mitteleuropa, die ohne Einfluss des Menschen vorherrschend wäre.[2] Da sind sich diejenigen die den Wald forstwirtschaftlich nutzen einig mit denen die möglichst viel Fläche aus der Nutzung nehmen und zu „Naturwald“ machen möchten. Lässt man z.B. eine vormals landwirtschaftlich genutzte Fläche brach liegen, unterliegt sie der Sukzession: von verfilztem Grasland über Brombeeren und Sträucher bleiben am Ende nur große Bäume übrig. Diese Sukzession zuzulassen nennt man Prozessschutz [3], eine gängige Prämisse gerade in großen Naturschutzgebieten. Die Vorstellung, dass dies natürlich sei, führt in Nationalparks sogar dazu, dass man Hirsche jagt damit die jungen Bäumchen nicht verbissen werden. Ich möchte den Prozessschutz nicht generell in Frage stellen. Er taugt aber nicht als alleinige Naturschutz-Strategie.

Naturwald-Beschilderung
Naturwald-Beschilderung
Naturwald-Beschilderung

Werfen wir einen Blick auf die Natur in Mitteleuropa bevor die Hominiden vor einigen hunderttausend Jahren auftauchten bzw. Homo sapiens vor vierzigtausend Jahren kam. In den letzten zwei Millionen Jahren gab es einen Wechsel von (längeren) Kalt- und kürzeren Warmzeiten. Da die Wechsel sich langsam vollzogen haben, konnten die jeweiligen Pflanzengemeinschaften mit dem Klima mitwandern. Lediglich Warmzeiten boten die Voraussetzungen für Bäume, ansonsten gab es Kältesteppe mit Mammut, Wollnashorn, Riesenhirsch, Rentier und weiteren Grasfressern.

Man kann davon ausgehen, dass sich in den Warmzeiten nur inselartig dichte Wälder gebildet haben, z.B. an Hängen und an Rückzugsorten von Raubtieren. Ansonsten dürfte die Landschaft halboffen gewesen sein. Denn auch zu diesen Zeiten grasten große Weidetiere: Waldelefanten, Nashörner, Damhirsche, Auerochsen, Wisente, Pferde,… [4]. Diese dürften die Landschaft gestaltet und in großen Teile offen gehalten haben. Ich oute mich hiermit als Anhänger der Megaherbivorenhypothese, denn der Nachweis dass die Landschaft nicht vielleicht doch von Wäldern geprägt war ist bisher nicht möglich. In Pollenanalysen ist die Verteilung von Baum- und Graspollen bei Wäldern und halboffenen Landschaften, bedingt durch das Abfressen der meisten Grasblüten, nicht zu unterscheiden [5]. Unstrittig ist das Bild: Elefanten neben Eichen.

Nach der Megaherbivorenhypothese hat der Mensch durch Jagdtätigkeit den Bestand an großen Pflanzenfressern so stark reduziert daß sich buchendominierter Wald mit geschlossener Baumdecke durchsetzen konnte. Damit wären die Ackerbauern nicht die Ersten, die die Vegetation nachhaltig verändert haben.

Die strikte geradlinige Trennung von Flächen mit landwirtschaftlicher oder forstlicher Nutzung ist kulturgeschichtlich noch gar nicht so alt. Vor den durch die Aufklärung beeinflussten Agrarreformen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden Gemüsegärten und Äcker mit Zäunen geschützt und das Vieh weidete relativ frei. Mit der Entfernung zur Ansiedlung nahm die Dichte an Bäumen mehr und mehr zu. Es gab bei Wald und Weide also eher ein Sowohl-als-auch denn ein Entweder-oder.

Wie schon erwähnt ist ein eindeutiger ‚Beweis‘ für die Megaherbivorenhypothese bisher nicht möglich. Sie allein scheint noch kein Wegweiser zu sein für die Frage welche Naturschutz-Strategie für welche Fläche sinnvoll ist. Ändern wir also den Blickwinkel und wenden uns den drängenden Problemen unserer Zeit zu: Biodiversität und Klimawandel; beide Themen gehören zu den Schlüsseln für das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde.

Wald und Artenschutz

Die Biodiversitätskrise betrifft unter anderem das Aussterben von Arten sowie den Verlust von Artenvielfalt und damit den klassischen Naturschutz. Nur wenige reine Waldbewohner sind in Deutschland selten oder bedroht, ganz anders sieht das mit Arten auf bewirtschafteten Flächen aus, z.B. auf Magerrasen. Landwirtschaftliche Flächen werden entweder intensiv bewirtschaftet, also stark gedüngt um hohe Erträge zu erzielen, oder sie fallen aus der Nutzung und verbrachen [6]. Selbst die zum Nationalen Naturerbe erklärten ehemaligen Truppenübungsplätze unterlagen längere Zeit einem schleichenden Biodiversitätsverlust infolge eines fehlenden Offenlandmanagements. Wie in der „Halboffenen Weidelandschaft Oranienbaumer Heide“ nachgewiesen wurde kann diese Entwicklung durch extensive Ganzjahresbeweidung mit Rindern und Pferden umgekehrt werden [7]. Gleiches gilt für aufgegebene Braunkohle-Tagebaugebiete usw.. Typische Vogelarten halboffener Landschaften sind z.B. Birkwild, Wiedehopf oder Raubwürger – verwalden die Gebiete, verschwinden solche Arten wieder.

Sukzession nach Nutzungsaufgabe
Sukzession nach Nutzungsaufgabe

Um Auswirkungen auf die Insektenwelt zu veranschaulichen möchte ich auf Kuhfladen hinweisen. Es ist bei der Haltung von Rindern und anderen Weidetieren mittlerweile üblich, regelmäßig vorbeugend Mittel gegen Würmer und Insekten zu verabreichen, also nicht erst dann zu reagieren wenn sich gesundheitliche Probleme abzeichnen. Das schädigt die Tierwelt die sich auf den Lebensraum Tierkot spezialisiert hat nachhaltig. Es gibt z.B. Dungkäfer-Arten die nur mit Kuhfladen etwas anfangen können und daher hochgradig gefährdet sind. Bei Beweidung unter Naturschutzaspekten wird daher auf die vorbeugende Entwurmung verzichtet. Bis die Dungkäfer dann wieder auftauchen, können viele Jahre vergehen. Weiteres Beispiel: Auf Extensiv-Weiden findet man eine deutlich höhere Biomasse an Zikaden sowie wesentlich mehr Zikaden-Arten als auf gemähten Wiesen [6].

Naturschutzgebiet (NSG) 'Geltinger Birk'
Naturschutzgebiet (NSG) ‚Geltinger Birk‘, Schleswig-Holstein im Winter. Die Beweidung erfolgt ganzjährig mit Konik-Pferden und Galloway-Rindern

Manchmal lohnt es sich genau hinzusehen: Luchse gelten als Waldtiere. Im Gegensatz zu Wölfen sind sie was ihre Umgebung angeht weniger anpassungsfähig, außerdem wandern sie weniger weit weg von ihrem Geburtsort. Damit sich Luchse wieder ansiedeln, sind sie in aller Regel auf menschliche Hilfe (Umsiedlung/Auswilderung) angewiesen, für genetischen Austausch zwischen Revieren sind Wald-Korridore entscheidend. Aber: „Bevorzugte nächtliche Jagdgebiete sind die Übergänge zwischen Wald und extensivem Grünland. In diesem Verzahnungsbereich finden die Beutetiere Reh und Rothirsch günstige Lebensbedingungen und erreichen eine hohe Bestandsdichte (Belotti et al. 2015; Dupke et al. 2017). Am Tag ziehen sich die Luchse in Tageslager zurück, die im Wald liegen (Filla et al. 2017).“ [8]

Trotz all dieser Erkenntnisse gibt es nach wie vor Naturschützer*innen die Prozessschutz als Naturschutzstrategie bevorzugen: „Das Zulassen natürlicher Sukzession und eine nachfolgende Entwicklung zu standortgerechten Wäldern fördert nicht nur die Widerstandsfähigkeit der Wälder gegen Hitze und Unwetter, sondern gerade auch Vogelarten, die in der Vergangenheit starke Rückgänge gezeigt haben.“ [9]

Wald und Klima

Wenn sich halboffene Landschaften positiv auf die Artenvielfalt auswirken, wie sieht es dann mit dem Klima aus? Wald gilt doch als CO2-Speicher schlechthin – oder? Für die Tropen ist das definitiv richtig, der fortschreitende Verlust von Regenwald ist ein Riesenproblem. Auf den ersten Blick erscheint Aufforstung auch bei uns ein einfaches Mittel zu sein um Klimagase zu binden. Außerdem kann ein Wirtschaftszweig gefördert werden – und genau so wird uns das von der Forstwirtschaft sehr erfolgreich verkauft sowie von der öffentlichen Hand subventioniert.

Einer näheren Betrachtung hält das aber nicht stand: die Sinnhaftigkeit von Aufforstung nördlich des 45. Breitengrades ist sehr fraglich [10]. Wälder in diesem Bereich erniedrigen die Albedo (Reflexionsstrahlung) und führen dadurch zu einer Klimaerwärmung, selbst wenn man die potentielle Kohlenstoffspeicherung einrechnet. Das heißt: obwohl es unter dem Blätterdach relativ kühl ist, ist die Gesamtbilanz aufwärmend. Die oberirdische Kohlenstoffspeicherung in der Wald-Pflanzenmasse schwankt je nach Bedingungen und kann in manchen Jahren auch in eine Produktion von Kohlendioxid umschlagen, zum Beispiel bei Stürmen oder in Hitze-/Trockenzeiten. Denn Pflanzen verbrauchen Kohlendioxid nicht. Eingebauter Kohlenstoff wird wieder freigesetzt, wenn Pflanzen sowie Pflanzenteile absterben oder „geerntet“ werden. Angerechnet werden kann nur der gesamte Kohlenstoffspeicher einer Fläche in einer Vorher-Nachher-Betrachtung, wobei der größte Anteil des Kohlenstoffs im Boden und nicht oberirdisch gespeichert wird [11]. Der Bodenkohlenstoffspeicher von artenreichem Grünland liegt über dem von Wäldern (SOC = soil organic carbon). Halboffene Standorte zeichnen sich durch einen hohen SOC-Wert bei relativ hoher Albedo aus. Den mit Abstand höchsten Bodenkohlenstoffspeicher haben Moore.

Bodenkohlenstoffspeicher Bodenatlas 2015
Bodenkohlenstoffspeicher (Bodenatlas 2015 – eigene Darstellung)

Fazit

Neben weiteren ambitionierten Zielen hat die EU-Kommission in ihrer im Mai 2020 vorgelegten ‚EU-Biodiversitätsstrategie 2030′ formuliert, dass 30 % der Land- und 30 % der Meeresfläche als Schutzgebiete ausgewiesen werden sollen sowie die Schutzgebiete besser gemanagt und durch ökologische Korridore besser miteinander verbunden werden sollen. Sie folgt damit dem internationalen Übereinkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt. [12,13] Ein Drittel der Schutzgebiete  in der EU soll unter ’strengen Schutz‘ gestellt werden, d.h. natürliche Prozesse sollen dort im Wesentlichen ‚ungestört ablaufen‘. [14] Dabei ist die Formulierung „im Wesentlichen ungestört“ interessant, denn dies lässt Ausnahmen zu wie die zu Beginn erwähnte Jagd auf Rotwild. Die EU setzt in der Frage der Naturschutz-Strategie also auf eine 2/3 ‚Pflege‘ zu 1/3 ‚Prozessschutz‘ – Lösung. Damit bin ich durchaus einverstanden, ob diese Flächenzunahme für den Naturschutz allerdings erreicht werden kann darf bezweifelt werden. Es ist jedenfalls eine von den vielen Mammut-Aufgaben die wir als Gesellschaft in den nächsten Jahren zu bewältigen haben.

Flächenversiegelung ist ungünstig – egal ob es sich um Wald handelt oder andere Flächen. Ein aus Naturverjüngung entstandener Mischwald ohne Nutzung ist wertvoller als Wirtschaftswald, deutlich mehr Aufmerksamkeit und naturschützerische Anstrengungen verdienen aber offene und halboffene Landschaftselemente. Diese gilt es massiv auszuweiten und durch angepasste Managementkonzepte und Monitoring zu begleiten. Im Raum steht die Forderung nach einem Weidekompetenz-Zentrum. [15] Bei naturnaher Beweidung haben wir die Möglichkeit, die für unsere Klimazone optimalen Ergebnisse bezüglich Klima und Biodiversität zu erzielen.

Galloway-Kuh im NSG 'Winderatter See', Schleswig-Holstein
Galloway-Kuh im NSG ‚Winderatter See‘, Schleswig-Holstein

Ich wünsche ihnen viel Freude beim nächsten (Wald-?)Spaziergang, vielleicht sehen sie die Landschaft dann mit anderen Augen…

Quellen

  1. Malkmus, Reinhard: Mehr Raum für den Baum: Die Kunst, leben zu lassen, der Freitag 52/53, 2020
  2. Georg-August-Universität Göttingen Öffentlichkeitsarbeit: Fagus sylvatica / Rotbuche: Biologie und Ökologie.
  3. Naturschutz als Prozessschutz ist eine vom Forstökologen Knut Sturm geprägte Naturschutzstrategie, die schwerpunktmäßig auf dem Nicht-Eingreifen in natürlich-dynamische Prozesse beruht (ungesteuerte Naturentwicklung, Wildnis-Inseln), vgl. naturschutzfachliche Definition nach Eckard Jedicke 1998. Vgl. Piechocki, R.: Landschaft – Heimat – Wildnis: Schutz der Natur – aber welche und warum? S. 110, 2010, und Schoof, N. et al.: Biodiversität fördern mit Wilden Weiden in der Vision „Wildnisgebiete“ der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, 7. Auflage, Nr. 93 Natur und Landschaft, S. 314 – 322, 2018.
  4. Aufderheide, Ulrike: Rasen und Wiesen im naturnahen Garten, Pala-Verlag, 2. Auflage 2016
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Megaherbivorenhypothese
  6. Vortrag Herbert Nickel, Göttingen. Das Insekten- und Vogelsterben vor dem Hintergrund der Natur- und Kulturlandschaftsgeschichte, https://www.youtube.com/watch?v=qT3W3sKt0bI
  7. Lorenz, Antje et al.: Natur und Landschaft, Jg. 96, 2021, Heft 2, S. 74-82
  8. zitiert nach Heurich, Marco et al.: Natur und Landschaft, Jg. 96, 2021, Heft 1, S. 11-18
  9. Dachverband deutscher Avifaunisten (DDA): Natur und Landschaft, Jg. 96, Heft 1, S. 62, 2021  nach Kamp et al.: Journal of Ornithology 2020, DOI: 10.1007/s10336-020-01830-4, 2020
  10. Bathiany, S. et al.: Combined biogeophysical and biogeochemical effects of large-scale forest cover changes in the MPI Earth system model. Biogeosciences. bg. 1383–1399. 10.5194/bg-7-1383-2010, 2010
  11. Veldman, J. et al.: Comment on “The global tree restoration potential”. Science. 366. eaay7976. 10.1126/science.aay7976, 2019
  12. https://www.cbd.int/
  13. https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbereinkommen_%C3%BCber_die_biologische_Vielfalt
  14. Jessel, Beate, Prof. Dr., Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, Vorwort Natur und Landschaft, Jg. 96, Heft 2, S. 73, 2021
  15. Bunzel-Drüke, M. et al.: Naturnahe Beweidung und NATURA 2000, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, 411 S., 2019
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Über Bernd Vetterick 1 Artikel
Grundstudium Biologie, staatlich geprüfter Natur- und Landschaftspfleger, Landwirt, Gärtner. Aktiv beim NaturGarten e.V. und bei Extinction Rebellion. Ein besonderes Anliegen ist für ihn wertschätzender Dialog, daher befürwortet er die Beteiligung durch Losverfahren in deliberativen Demokratieformaten wie Bürger*innenräten.